Diese Seiten wurden für Smartphones optimiert.
Für die PC-Version
klicken Sie bitte hier.
Standard "Schmerzerkennung bei Demenz"
Ein
guter Kinderarzt ist vor allem ein guter Beobachter. Schließlich kann
ein Baby nicht sagen, ob und wo genau es Schmerzen hat. Von einer
Pflegekraft werden ähnliche Qualitäten erwartet. Denn auch
Demenzpatienten mit Schmerzen können sich verbal oft nicht mehr
mitteilen.
Standard "Schmerzerkennung bei Demenz"
Definition:
-
Demenziell erkrankte Senioren empfinden
Schmerzen mit der gleichen Intensität wie kognitiv nicht eingeschränkte
Menschen. Dennoch erhalten Demenzpatienten in vielen Fällen keine
ausreichende Analgetikaversorgung. Mehrere Faktoren sind dafür primär
verantwortlich:
-
Die hirnorganische Degeneration führt
dazu, dass betroffene Senioren ein massives Unwohlsein spüren, dafür
aber nicht den Schmerz als Auslöser identifizieren.
-
Darüber hinaus führt eine fortschreitende
Demenz zum Verlust der Sprachfähigkeit. Der Betroffene vergisst die
Bedeutung des Begriffs "Schmerz". Er kann Pflegekräften nicht sinnvoll
antworten, wenn ihn diese nach "Schmerzen" fragen. Es bleiben nur noch
Gesten und Mimik, um auf die Beschwerden hinzuweisen. Nonverbale
Kommunikation ist jedoch häufig zweideutig und niemals so präzise wie
eine verbale Kommunikation.
-
Schmerzen und Demenz teilen sich überdies
ein ähnliches Symptombild, wie etwa Unruhe, Rückzug oder Aggressionen.
Bezugspersonen ordnen solche Auffälligkeiten eher der Demenz zu und
vermuten keine Schmerzen.
-
Wenn Schmerzen nicht therapiert werden,
können sie den kognitiven Zustand erheblich verschlechtern. Überdies
kann es zu Depressionen und zu Schlafstörungen kommen. Es bildet sich
ein Teufelskreis aus Demenz und unbehandelten Schmerzen, die wiederum
die Demenz intensivieren.
-
Die Demenz erschwert überdies nicht nur
die Schmerztherapie. Auch die Erkennung und die Behandlung der
auslösenden Grunderkrankung werden erheblich behindert. Ein demenziell
erkrankter Bewohner kann sich ggf. nicht verständlich machen, wenn z.B.
ein Zahn von Karies befallen ist oder wenn sich eine Harnwegsinfektion
entwickelt. Ohne eine ärztliche Intervention jedoch schreiten solche
Erkrankungen voran. Die Schmerzen intensivieren sich ebenfalls.
Grundsätze:
-
Jeder Mensch, ob demenzkrank oder nicht, hat das Recht auf eine angemessene Therapie seiner Schmerzen.
-
Wenn der Schmerzstatus eines Bewohners
unklar ist, sollte vom Arzt im Zweifel stets für eine Schmerztherapie
entschieden werden.
-
Wir vertrauen niemals blind auf
Assessmentskalen. Diese können uns helfen, den Schmerzzustand des
Bewohners strukturiert zu erfassen. Skalen vereinfachen jedoch eine
komplexe Problematik auf wenige Kriterien. Es kann daher dazu kommen,
dass ein Schmerzzustand unerkannt bleibt. Vor allem Senioren mit
fortgeschrittener Demenz sowie mit umfangreichen Lähmungen zeigen
selbst bei erheblichen Beschwerden nur wenige der dafür typischen
Anzeichen. Wir vertrauen daher stets auf unser Bauchgefühl. Dazu zählt
insbesondere die "unbestimmte Ahnung", dass mit einem dementen Bewohner
"irgendetwas nicht stimmt".
-
Wir arbeiten eng mit dem behandelnden
Hausarzt zusammen. Dieser ist auf unsere Beobachtungen und auf unsere
genaue Dokumentation angewiesen. Der Arzt sieht den Bewohner nur wenige
Minuten pro Woche. Er kann überdies einen Demenzpatienten nicht zu
seiner Schmerzbelastung befragen, wenn dieser seine Sprachfähigkeit
verloren hat. Der Mediziner ist folglich nicht in der Lage, die
Effektivität der von ihm verschriebenen Analgetika ohne unsere Hilfe
einzuschätzen und ggf. anzupassen.
Ziele:
-
Wir erkennen es, wenn ein demenziell
erkrankter Bewohner Schmerzen hat. Wir unterscheiden sicher zwischen
den Symptomen der Demenz und den Verhaltensauffälligkeiten, die durch
die Schmerzen ausgelöst werden.
-
Gemeinsam mit dem Bewohner entwickeln wir
eine nonverbale Form der Kommunikation. Es ist dem Bewohner möglich,
uns trotz des Verlusts der Sprachfähigkeit den Ausgangpunkt von
Schmerzen und deren Intensität mitzuteilen.
-
Der Bewohner erhält eine angemessene Schmerztherapie.
Vorbereitung:
-
Möglichst noch vor Aufnahme der Pflege
suchen wir den Kontakt zu den Angehörigen. Wir befragen diese, wie sich
Schmerzen bei dem Bewohner bislang bemerkbar gemacht haben. Überdies
bitten wir Freunde und Familienangehörige, sich bei uns zu melden, wenn
sie das Gefühl haben, dass es dem Bewohner nicht gut geht.
-
Sofern der Bewohner in der Vergangenheit
ärztlich oder pflegerisch versorgt wurde, bitten wir um
Informationsweitergabe. Oftmals kann man anhand früherer ärztlicher
Anordnungen erkennen, dass der Bewohner ein potenzieller Schmerzpatient
ist. Dieses insbesondere, wenn die Analgetikaversorgung über längere
Zeiträume als Dauermedikation erfolgte. Bei einem solchen Patienten
wurde später oftmals die Schmerzmittelversorgung eingestellt, weil
dieser nicht mehr über Beschwerden klagte. Dieses lag ggf. aber nicht
am Nachlassen der Schmerzen, sondern am Verlust der Sprachfähigkeiten.
-
Wir versuchen auch zu klären, welche
biografischen Prägungen ggf. Einfluss darauf nehmen, wie der Bewohner
mit Schmerz umgeht. Viele Senioren wurden in ihrer Jugend dazu erzogen,
"die Zähne zusammenzubeißen" und nicht über Schmerzen zu klagen. Diese
Prinzipien können dazu führen, dass ein Bewohner seine
Bezugspflegekraft nicht über seine Beschwerden informiert. Darüber
hinaus werden solche Senioren versuchen, so normal wie möglich zu
wirken.
-
Bereits im Rahmen des Erstgesprächs
verschaffen wir uns einen möglichst umfassenden Überblick über den
Gesundheitszustand des Bewohners. Wir achten dabei auf
Grunderkrankungen, die üblicherweise mit einer erheblichen
Schmerzbelastung verbunden sind. Dazu zählen z.B. Leiden aus dem
rheumatischen Formenkreis, Osteoporose, Tumorerkrankungen sowie
Neuralgien. Bei diesen Patienten ist stets davon auszugehen, dass sie
starke Schmerzen haben.
-
Wir setzen das System der Bezugspflege
um. Wenn der Bewohner von nur wenigen Pflegekräften versorgt wird,
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeitern Verhaltensänderungen
als Folge von Schmerzen auffallen. Wir beachten dabei, dass sich ein
verlässliches "Gespür" für die Schmerzbelastung dementer Bewohner
i.d.R. erst nach vielen Berufsjahren einstellt.
-
Die Nutzung von Fremdeinschätzungsskalen
sollte erst erfolgen, nachdem dieses im Team geübt wurde. Ansonsten
kann es durch Anwendungsfehler zu falschen Ergebnissen kommen. Der
Gebrauch von Selbstauskunftsskalen hingegen ist erfahrungsgemäß
deutlich weniger fehleranfällig.
Durchführung:
Schmerzerfassung
-
Das verlässlichste Mittel zur
Schmerzerfassung ist immer die Eigeneinschätzung durch den Bewohner
selbst. Auch bei einer fortschreitenden demenziellen Erkrankung sollte
so lange wie möglich der Pflegebedürftige zu etwaigen Beschwerden
befragt werden. Dieses erfolgt mehrmals pro Schicht durch die Fragen
"Haben Sie jetzt Schmerzen?", "Tut etwas weh?" o.Ä.
-
Ggf. nutzen wir ein Symbolsystem,
insbesondere ein "Schmerzlineal" oder eine "Smiley-Analog-Skala". Ein
lächelndes Smiley steht für Schmerzfreiheit, ein neutrales Gesicht für
geringe Beschwerden und ein weinendes Smiley für unerträgliche
Schmerzen. Der Bewohner zeigt auf seinen Zustand. In vier von zehn
Fällen können Demenzpatienten damit ihre Schmerzen sinnvoll beschreiben.
-
Erst wenn der Bewohner offensichtlich den
Sinn der Fragen nicht mehr erfassen kann, sollte eine Fremdeinschätzung
durch die Pflegekraft erfolgen.
-
Es ist ggf. sinnvoll, eine zweite
Pflegekraft an der Erhebung zu beteiligen. Bei einer Mobilisierung ist
es einer einzelnen Pflegekraft nicht möglich, gleichzeitig das Gesicht
des Bewohners zu beobachten. Eine Grimasse als Folge eines plötzlichen
Schmerzimpulses bliebe so unentdeckt.
-
Die Schmerzbelastung eines Bewohners wird im Rahmen von Fallbesprechungen sowie bei der Pflegevisite thematisiert.
Symptome
Wir achten
auf Symptome, die für eine erhebliche Schmerzbelastung sprechen.
Wichtig ist dabei der Vergleich mit dem üblichen Verhalten eines
Bewohners. Eine demenzielle Erkrankung wird dazu führen, dass sich die
Symptome langsam und kontinuierlich entwickeln. Wenn der Bewohner
jedoch (akute) Schmerzen hat, wird sich sein Verhalten binnen weniger
Tage deutlich ändern.
-
Der Bewohner flucht.
-
Die Sprache des Bewohners ist abgehackt.
-
Der Bewohner stöhnt, weint oder schreit. Viele Betroffene winseln oder seufzen.
-
Der Bewohner hat keinen Appetit. Er möchte nichts mehr essen und trinken, etwa bei Schmerzen im Mund- und Rachenraum.
-
Der Pflegebedürftige reagiert nicht wie gewohnt auf Ansprache. Er lässt sich nicht trösten, ablenken oder beruhigen.
-
Der Pflegebedürftige ist völlig in sich zurückgezogen, was sonst unüblich ist.
-
Wir beobachten beim Bewohner Unruhezustände.
-
In der Nacht kann der Bewohner nicht schlafen.
-
Der Bewohner bevorzugt eine bestimmte
Lagerung, etwa auf der rechten Seite. Andere Lagerungen akzeptiert er
nicht mehr, etwa die auf der linken Seite. Er rollt sich eigenständig
auf die bevorzugte Seite.
-
Wir sehen eine Schonhaltung. Etwa werden
die Beine bei Bauchschmerzen angezogen. Oder aber ein Arm wird über
eine längere Zeit schützend festgehalten und nicht normal bewegt.
-
Der Bewohner sucht nach einer Schonhaltung, kann diese aber offensichtlich nicht finden.
-
Der Bewohner berührt ständig eine bestimmte Körperstelle.
-
Der Bewohner möchte nicht berührt werden, oder nur an bestimmten Stellen nicht berührt werden.
-
Er nestelt, z.B. an seiner Bettdecke oder an der Kleidung.
-
Der Bewohner leistet Widerstand bei
Pflegemaßnahmen, insbesondere wehrt er sich gegen Mobilisierungen und
gegen Lagerungen.
-
Er wiegt und schaukelt sich ununterbrochen.
-
Der Bewohner will nicht gehen oder stehen wie üblich.
-
Der Bewohner ballt die Fäuste. Er schlägt um sich und ist wütend.
-
Er ruft ohne Unterlass; insbesondere nach
seiner Mutter oder nach Personen, die in seiner Jugend die Schmerzen
gelindert hätten.
-
Der Puls und der Blutdruck des Bewohners sind erhöht. Der Kopf des Bewohners ist hochrot.
-
Wir sehen einen ängstlichen Gesichtsausdruck, etwa geweitete Augen.
-
Der Bewohner zeigt einen angespannten, weinerlichen oder traurigen Ausdruck.
-
Der Bewohner schneidet Grimassen oder runzelt mit der Stirn. Die Lippen, die Zähne oder die Augen sind zusammengekniffen.
-
Der Bewohner erbricht sich.
-
Wir erkennen Schweißausbrüche, ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe.
-
Die Gesichtsfarbe ist blass.
-
Der Muskeltonus ist erhöht. Es kommt zu Zuckungen.
-
Im Bereich des Abdomens ist eine Abwehrspannung spürbar.
-
Die Atmung ist beschleunigt und angestrengt.
Nachbereitung:
-
Ggf. führen wir ein Schmerzassesment
durch. Dafür stehen verschiedene Einschätzungsinstrumente zur
Verfügung, etwa Doloplus, BESD ("Beurteilung von Schmerzen bei Demenz")
oder BISAD (Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten
Menschen mit Demenz).
-
Der Mitarbeiter, der die Beobachtung
durchführt, gibt an, in welcher Situation der Betreffende sich gerade
befindet (liegend im Bett oder etwa beim Waschen). Er beobachtet den
dementen Pflegebedürftigen zwei Minuten lang und kreuzt die
entsprechenden Verhaltensweisen an. Bei der Auswertung werden nach
einer festgelegten Regel Punkte vergeben. Ab einem definierten
Punktwert muss der Bewohner in Bezug auf Schmerzzustände näher
untersucht und ggf. behandelt werden.
-
Es ist wichtig, den Bewohner zu
beobachten, ohne dass sich dieser beobachtet fühlt. Es könnte sonst zu
einer bewussten oder unbewussten Verhaltensänderung kommen.
-
Direkt vor der Schmerzeinschätzung sollten keine anstrengenden oder unangenehmen Pflegemaßnahmen durchgeführt werden.
-
Während der Beobachtung sollte der
Bewohner keinen Außenreizen ausgesetzt sein, die das Schmerzempfinden
beeinflussen. Angenehme Musik etwa kann Schmerzen für begrenzte Zeit
lindern. Streit mit Mitbewohnern oder Straßenlärm hingegen steigern
ggf. das Schmerzempfinden und somit die Symptomatik.
-
Der Aussagewert eines einzelnen
Assessments ist gering. Bei Senioren mit einem hohen Risiko von
unentdeckten Schmerzzuständen sollte die Erhebung mehrmals wöchentlich
erfolgen. Es ist überdies wichtig, dass das Assessment immer von der
gleichen Person, i.d.R. von der Bezugspflegekraft, durchgeführt wird.
-
Wenn wir vermuten, dass ein demenziell
erkrankter Bewohner Schmerzen hat, prüfen wir gemeinsam mit dem Arzt,
ob der Bewohner eine Versuchsmedikation erhalten sollte. Der Bewohner
erhält also "auf Verdacht" ein Analgetikum. Wenn die Auffälligkeiten
die Folge von Beschwerden waren, sollte in den folgenden Tagen eine
Normalisierung des Verhaltens beobachtet werden. In diesem Fall erhält
der Bewohner eine dauerhafte Schmerzmittelapplikation.
-
Ggf. wird die Schmerzmitteltherapie gemeinsam mit dem behandelnden Arzt langfristig umgestellt.
Dokumente:
-
Pflegebericht
-
Pflegeplanung
Verantwortlichkeit / Qualifikation:
|