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Standard "Nutzung von Antidepressiva bei Senioren"

Die rigorosen Sparvorschriften der Krankenkassen lassen eine angemessene therapeutische Behandlung depressiver Senioren kaum noch zu. Stattdessen gibt es billige Antidepressiva - die immerhin in rauen Mengen. Was Pflegekräfte über den richtigen Einsatz dieser Wirkstoffe wissen müssen, haben wir in einem Standard zusammengefasst.


Standard "Nutzung von Antidepressiva bei Senioren"


Definition:

  • Die Stimmungslage des Menschen ist zu einem Teil abhängig von chemischen Prozessen, die aufgrund verschiedenster krankhafter Veränderungen gestört sein können. Als Folge treten ggf. Depressionen auf.
  • So steuert der Neurotransmitter Noradrenalin die Wachheit, den Antrieb und die Motivation. Der Stoff Serotonin lenkt Aggressionen und den Appetit. Beide Neurotransmitter beeinflussen die Stimmung und das Angstempfinden.
  • Alle derzeit verfügbaren Antidepressiva beeinflussen die Verfügbarkeit dieser Stoffe im Hirn und dämpfen damit Depressionen. In unserer Einrichtung kommen vor allem folgende Stoffklassen zum Einsatz:
    • Trizyklische Antidepressiva hemmen die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin. Die Arzneimittel wirken stimmungsaufhellend, antriebssteigernd und angstlösend. Diese Stoffklasse ist sehr wirksam, allerdings um den Preis von deutlichen Nebenwirkungen wie Herzrhythmusstörungen, Kreislaufregulationsstörungen, Mundtrockenheit und Obstipation. Deshalb sind diese Stoffe für alte Menschen oft nicht geeignet.
    • Monoaminooxidasehemmer (MAO-Hemmer) erhöhen die Konzentration von Serotonin und Noradrenalin im Gehirn. Diese Klasse ist weniger wirksam als trizyklische Antidepressiva, belastet dafür aber den Bewohner mit erträglicheren Nebenwirkungen. Dennoch kann es zu Schlafstörungen, Schwindel, Kopfschmerzen oder zu Blutdruckerhöhungen kommen.
    • Gerade bei Senioren kommen oft modernere Antidepressiva zum Einsatz, wie etwa die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder die selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI). Sie verursachen weit weniger Nebenwirkungen, zumeist gastrointestinale Symptome, Unruhe und Schlafstörungen.
    • Johanniskrautpräparaten wurde bislang lediglich ein Placeboeffekt zugesprochen, neue Studien belegen jedoch eine Wirksamkeit bei leichten bis mittleren Depressionen. Johanniskraut wirkt stimmungsaufhellend und hat kaum Nebenwirkungen. Allerdings setzt der erwünschte Effekt erst nach rund zwei Wochen ein. Johanniskraut erhöht die Lichtempfindlichkeit deutlich, und somit tritt ein Sonnenbrand sehr viel schneller ein.
  • Die Wirkung und die notwendige Dosierung von Antidepressiva schwanken deutlich von Person zu Person. Daher ist es üblich, verschiedene Präparate auszuprobieren. Es ist wichtig, dass jedes Medikament ausreichend lange appliziert wird, um den erreichten Effekt einschätzen zu können. Auch die Dosierung muss hoch genug gewählt werden. Mit der ersten stimmungsaufhellenden Wirkung ist innerhalb von 10 bis 20 Tagen zu rechnen. Eine abschließende Bewertung erfordert die Einnahme über mehrere Wochen.

Grundsätze:

  • Eine medikamentöse Behandlung macht nur Sinn, wenn sie durch therapeutische Maßnahmen flankiert wird.
  • Wir achten beim Kontakt mit Ärzten darauf, dass dieser gleichberechtigt, also "auf Augenhöhe" abläuft. Da wir unsere Bewohner täglich erleben und teilweise seit vielen Jahren kennen, beanspruchen wir ein Mitspracherecht bei der Auswahl der richtigen Therapie.
  • Es ist für uns nicht akzeptabel, wenn unsere Bewohner ein Medikament mit vielen Nebenwirkungen erhalten, nur weil dieses preiswerter ist und das ärztliche Verordnungsbudget schont.

Ziele:

  • Die Auswirkungen der Depression werden gemildert.
  • Der Bewohner ist über die Wirkungsweise und über Nebenwirkungen seines Medikaments informiert.
  • Der Bewohner wird von einem fachkundigen Arzt ganzheitlich behandelt.
  • Der Bewohner wird vor Überdosierungen und anderen Komplikationen geschützt.
  • Nach dem Abklingen der Depressionen wird der Bewohner vor Rückfällen bewahrt.

Vorbereitung:

Indikation

Wir prüfen die Notwendigkeit von Antidepressiva, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

  • depressive Verstimmung
  • Zwangsstörungen
  • Antriebsarmut
  • Panikattacken und andere Angststörungen
  • Alkoholentzugssyndrom
  • Schlafstörungen
  • notwendige Rückfallprophylaxe bei rezidivierenden depressiven Störungen
  • ggf. chronische Schmerzen

Weitere Maßnahmen

  • Wir sorgen für eine ausführliche Anamnese durch den Arzt. Wenn der Hausarzt mit dem Krankheitsbild überfordert ist, drängen wir auf eine Überweisung zum Facharzt.
  • Wir informieren den behandelnden Arzt über Krankheitsbilder, die bei der Wahl des richtigen Präparats relevant sein könnten. Dieses ist insbesondere dann wichtig, wenn mehrere Ärzte an der Behandlung beteiligt sind und der Informationsaustausch nicht gesichert ist (auch durch sog. "Ärztehopping").
    • Bewusstseinsstörungen unklarer Ursache
    • Engwinkelglaukom
    • Einnahme von Blutgerinnungshemmern
    • beeinträchtigte Funktion der Nieren
    • Schilddrüsenfunktionsstörungen
    • Prostatavergrößerung
    • Harnverhalt
    • Vorschädigung der Lunge oder des Herzens
    • beeinträchtigte Funktion der Leber
    • parallele Einnahme von Barbituraten, Opiaten und Analgetika
    • Drogen- und Alkoholkonsum

Durchführung:

Linderung der Nebenwirkungen

Wir versuchen, den häufigsten Nebenwirkungen entgegenzusteuern:

  • Mundtrockenheit: Der Bewohner soll Kaugummi kauen oder Bonbons (insb. saure Drops) lutschen. Die Mundpflege erfolgt laut Standard "Soor- und Parotitisprophylaxe". Eine gute Zahnpflege kompensiert das gesteigerte Kariesrisiko.
  • Verstopfte Nase: Der Bewohner erhält Nasenspray mit Meersalz, aber keine abschwellenden Nasensprays oder Nasentropfen.
  • Niedriger Blutdruck, Kreislaufstörungen und Kollapsneigung: Wir setzen den Standard "Pflege von Senioren mit Hypotonie" um. Ggf. erfolgt eine Applikation von Sympathomimetika. Der Bewohner soll langsam aufstehen. Er erhält ggf. Wechselduschen und kalte Güsse.
  • Verstopfung: Die Standards "Obstipationsbehandlung - manuelle Ausräumung" sowie "Obstipationsprophylaxe" werden umgesetzt. Insbesondere soll der Bewohner viel trinken sowie mehr Ballaststoffe und Sauermilchprodukte konsumieren.
  • Trockene Augen: Es erfolgt eine Applikation von Tränenersatzflüssigkeit.
  • Potenzstörungen: Ggf. hilft die Einnahme von Arzneimitteln zur Behandlung der erektilen Dysfunktion.
  • Unruhezustände: Der Bewohner soll an der Sport- und Gymnastikgruppe teilnehmen. Wir beruhigen den Bewohner und vermitteln ihm die Technik des autogenen Trainings.
  • Fingertremor: Der Bewohner soll geeignete Übungen durchführen. Wir beraten ihn zu alternativen Beschäftigungen wie lesen oder spazieren gehen. Sinnvoll sind alle Tätigkeiten, die keine präzise Fingerfertigkeit erfordern. Wir unterstützen den Bewohner, wenn er den Tremor als ein weiteres Versagen missinterpretiert.
  • Leichte Sehstörungen: Ggf. kann der Bewohner eine schwache Lesebrille nutzen. Diese kann er an den nächsten Betroffenen weitergeben, sobald sich die Symptomatik von allein zurückbildet. Bei massiven Sehbehinderungen wird der Bewohner zeitnah einem Augenarzt vorgestellt.
  • Gewichtszunahme: Der Bewohner erhält kalorienreduzierte Kost. Er soll mehr Sport treiben und auf Süßwaren verzichten. Wenn der BMI des Bewohners zuvor zu gering war, wird der Pflegebedürftige für die Gewichtszunahme gelobt.
  • Müdigkeit: Der Bewohner soll sich an der frischen Luft bewegen. Er erhält anregende Tees. Das Schlafverhalten wird angepasst.
Viele dieser Symptome lassen nach wenigen Tagen wieder nach. Ansonsten ist eine Dosisreduktion oder die Umstellung auf einen anderen Wirkstoff sinnvoll.

Achten auf Vergiftungssymptome

  • Die therapeutische Breite der meisten Antidepressiva ist gering. Daher kann es leicht zu Vergiftungen kommen. Diese zeigen sich durch spezifische Symptome:
    • starker Tremor, ggf. Rigor (Muskelstarre) und Ataxie (Störungen der Bewegungskoordination)
    • Herzrhythmusstörungen (unregelmäßiger Puls)
    • Übelkeit
    • Oligurie
    • starker Durst
    • Durchfall
    • Erbrechen
    • Pupillenerweiterung
    • Müdigkeit
    • Schläfrigkeit
    • Schwindel
    • Muskelschwäche
    • tiefer Schlaf (Sopor)
    • Atemstörung und Atemlähmung
    • Sprachstörungen
    • Unruhezustände
    • Hämatome und Hautveränderungen
    • Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma
  • Wenn es hinreichende Anzeichen für eine Vergiftung gibt, wird umgehend der Arzt / Notarzt gerufen.
  • Um eine Vergiftung zu vermeiden, werden regelmäßig die wichtigsten Laborparameter ermittelt, wie etwa der Lithiumspiegel, Schilddrüsen- und Nierenwerte, Blutbild und Elektrolyte.

Weitere Maßnahmen

  • Der Bewohner darf während der Antidepressiva-Therapie keinen Alkohol oder Drogen zu sich nehmen.
  • Kaffee und Tee sowie Grapefruitsaft sollten nur in Maßen konsumiert werden, sie beeinflussen die Wirkung der Medikamente.
  • Wir sorgen dafür, dass der Bewohner vom Hausarzt ausreichend über die Wirkungen und Nebenwirkungen des Medikaments informiert wird.
  • Wenn die Nebenwirkungen unverhältnismäßig stark sind im Vergleich zum Nutzen, bitten wir um eine alternative Medikamentierung.
  • Nur bei wenigen Medikamenten ist eine Diät erforderlich, etwa der Verzicht auf Salami, weiße Bohnen, Sauerkraut und Joghurt bei MAO-Hemmern. Oftmals haben sich langjährig therapierte Senioren an Lebensmittelbeschränkungen gewöhnt, die nach einer Wirkstoffumstellung inzwischen nicht mehr erforderlich sind. Wir beraten den Bewohner entsprechend.
  • Wir drängen auf eine einmal tägliche (also nicht mehrmals tägliche) Dosierung. Dieses sollte auch bei den meisten älteren Bewohnern machbar sein.
  • Präparate mit antriebssteigernder Wirkung sollten nicht am Abend appliziert werden, da dann die Nachtruhe gestört werden könnte.
  • Wir stellen sicher, dass der Bewohner die Medikamente regelmäßig einnimmt. Ggf. wird dieses von einer Pflegekraft kontrolliert.
  • In ambulanten Wohnformen sollten ggf. nur kleine Packungsgrößen verschrieben werden, damit der Bewohner keine letalen Tablettenmengen sammeln kann. Wenn die Pflegekraft auf einen gehorteten Vorrat stößt, so sammelt sie diesen ein und informiert den behandelnden Arzt.
  • Insbesondere in den ersten Wochen der Therapie werden engmaschig Puls und Blutdruck kontrolliert.
  • Im Rahmen der Grundpflege achten wir auf Hämatome, Hautausschlag und andere Hautveränderungen.
  • Verschiedene Wirkstoffe stören die Temperaturregelung und steigern die Photosensibilität. Der Bewohner sollte dann im Sommer angemessene Kleidung tragen, heiße Räume verlassen, körperliche Aktivität meiden und sich im Schatten aufhalten. Sonnenbäder und Solariumsbesuche sind zu vermeiden. Im Freien sollte der Bewohner entsprechende Kleidung inkl. einer Kopfbedeckung tragen. Sonnencreme ist sinnvoll.
  • Verhaltensänderungen werden sorgfältig dokumentiert und dem Arzt mitgeteilt.
  • Beim Einsatz von Antidepressiva steigt in den ersten Wochen das Suizid-Risiko deutlich an, da die Antriebssteigerung früher einsetzt als die Stimmungsaufhellung. Suizidpläne, die bislang aufgrund der Antriebslosigkeit scheiterten, kann der Bewohner nun umsetzen. Dieses muss bei der Überwachung des Bewohners berücksichtigt werden. Möglich ist auch eine zusätzliche Applikation von Benzodiazepinen und niederpotenten Neuroleptika.
  • Wenn der Bewohner über Schwierigkeiten beim Lesen klagt, liegt häufig eine temporäre Akkommodationsstörung vor. Wenn jedoch massive Sehstörungen eintreten, kann ein Glaukom die Ursache sein. Eine augenärztliche Untersuchung ist dann notwendig.

Nachbereitung:

  • Alle Beobachtungen werden genau dokumentiert. Die Beschreibung erfolgt wertfrei. Wir achten insbesondere auf Veränderungen im Verhalten des Bewohners.
  • Viele Betroffene setzen das Präparat eigenmächtig ab, nachdem die schlimmsten depressiven Symptome überwunden sind. Wir raten dem Bewohner dringend davon ab, da bei einem abrupten Einnahmestopp überschießende Reaktionen auftreten können (sog. "Rebound-Effekte"). Dazu zählen Zittern, Albträume, Kopfschmerzen, Unruhezustände, Panikattacken sowie Schweißausbrüche.
  • Auch nach dem Abklingen der depressiven Stimmungseintrübung sollte die medikamentöse Therapie noch vier bis neun Monate fortgeführt werden; allerdings i.d.R. mit einer reduzierten Dosierung. Wir beugen damit einem Rückfall vor.
  • Wir bieten unseren Pflegekräften regelmäßig Supervision an.
  • Etwaig aufgetretene Probleme werden im Qualitätszirkel thematisiert.

Dokumente:

  • Pflegebericht
  • Pflegeplanung
  • Medikamentenblatt

Verantwortlichkeit / Qualifikation:

  • Pflegefachkräfte
  • Pflegehilfskräfte