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Pflegestandard "Deprivation / psychischer Hospitalismus"

 Zu Tode langweilen. Diese flapsige Bemerkung kann in der Altenpflege schnell zur grausigen Realität werden. Wenn ein Senior mangels Bewegungsfähigkeit tagein tagaus an die weiße Zimmerdecke starren muss, erlischt irgendwann zwangsläufig die Lebenskraft. Deprivation ist bei der Betreuung immobiler Patienten oder Bewohner ein ernstzunehmendes Pflegeproblem.


Pflegestandard "Deprivation / psychischer Hospitalismus"


Definition:

  • Deprivation (auch "psychischer Hospitalismus") ist definiert als das Vorenthalten von körperlicher und emotionaler Zuwendung sowie dem Entzug von Sinnesreizen. Geprägt wurde dieser Begriff ursprünglich im Zusammenhang mit verwahrlosten Heimkindern, inzwischen wird er auch in der Altenpflege vor allem bei gänzlich immobilen Senioren genutzt.
  • Deprivation löst bei Senioren seelische Schäden aus wie etwa Passivität, Apathie, Depression und Regression. Sogar Todesfälle sind bei extremer Deprivation möglich.

Grundsätze:

  • Deprivation ist keine unvermeidliche Folge von Pflegebedürftigkeit und Immobilität. Durch respektvollen Umgang mit dem Bewohner und durch aktivierende Pflege kann die Erkrankung vermieden oder zumindest deren Folgen begrenzt werden.
  • Wir warten nicht ab, bis der Bewohner aus eigenem Wunsch nach Reizen verlangt, sondern bieten diese von uns aus an.

Ziele:

  • Der Bewohner gewinnt den vertrauten Bewusstseinsstatus wieder.
  • Ein Reizmangel wird vermieden.
  • Der Bewohner wird stärker in die Gemeinschaft der Einrichtung eingebunden.
  • Die Körperwahrnehmung wird verbessert.
  • Die Folgen einer Deprivation werden gelindert.
  • Wir sorgen für Anregungen im visuellen und im kommunikativen Bereich.

Vorbereitung:

allgemeine Maßnahmen

  • Unser Personal wird regelmäßig zum Thema Deprivation fortgebildet.
  • Zwei Pflegefachkräfte unserer Einrichtung verfügen über eine Weiterbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft.
  • Wir erweitern unsere Bibliothek regelmäßig um aktuelle Fachbücher zu diesem Thema. Wir ermuntern unsere Pflegekräfte, diese Bücher zu lesen.
  • Wir sensibilisieren auch andere Berufsgruppen, etwa Hauswirtschaftskräfte oder Ergotherapeuten, und bitten diese, entsprechende Beobachtungen an die Pflegekräfte weiterzugeben.

Gefährdungsgrad bestimmen

Wir prüfen regelmäßig, inwieweit der einzelne Bewohner von einer Deprivation bedroht ist. Das Risiko ist bei verschiedenen Kriterien erhöht:

  • Die Sinnesfunktionen des Bewohners sind geschwächt.
  • Es fällt dem Bewohner schwer, soziale Kontakte aufzubauen.
  • Er leidet bereits an anderen psychischen Erkrankungen.
  • Der Bewohner musste in letzter Zeit verschiedene schwere Schicksalsschläge verarbeiten.
  • Der soziale oder räumliche Bezugsrahmen hat sich verändert, also etwa durch einen unlängst erfolgten Umzug in das Pflegeheim.
  • Der Bewohner muss sich restriktiven therapeutischen Einschränkungen unterwerfen, etwa eine Isolation aufgrund einer Infektionskrankheit oder strikter Bettruhe nach einer TEP-Operation.

achten auf Symptome

Wir achten auf Symptome, die für eine sich entwickelnde Deprivation sprechen. Etwa:

  • Der Bewohner zeigt ein regressives Verhalten, er wird also wieder "zum Kind". Obwohl er über ausreichende Selbstversorgungsfähigkeiten verfügt, lässt er sich waschen oder füttern. Es handelt sich dabei zumeist um den unbewussten Versuch, Aufmerksamkeit zu erzwingen.
  • Der Bewohner vernachlässigt seinen Körper, wäscht sich z.B. nicht.
  • Der Bewohner führt permanent Schaukelbewegungen aus oder nestelt an seiner Kleidung.
  • Der Bewohner summt oder klagt permanent. Mitunter werden auch stereotyp einzelne Sätze oder Gebete wiederholt. Er führt Selbstgespräche oder schreit laut.
  • Der Bewohner ist apathisch. An seiner Umwelt ist er nicht mehr interessiert. Er ist teilnahmslos und reagiert kaum noch auf Ansprache.
  • Der Bewohner zieht sich zurück. Er verlässt sein Zimmer nur selten und bewegt sich kaum noch.
  • Die Anfälligkeit für Krankheiten steigen; vor allem für Infektionen.
  • Der Geruchs- und Geschmackssinn lassen nach.
  • Der Bewohner isst zu wenig oder verweigert die Nahrung vollständig.
  • Der Bewohner leidet unter Inkontinenz, ohne dass es dafür einen organischen Auslöser geben würde.
  • Der Bewohner leidet unter Panikattacken oder Depressionen.

Ursachensuche

Wir versuchen zu bestimmen, wodurch die Deprivation verursacht wurde. Dieses erlaubt Rückschlüsse auf die Deprivationsform.

  • Sensorische Deprivation, also der Entzug von Sinnesreizen:
    • Die Hörfähigkeiten des Bewohners sind eingeschränkt, etwa weil er kein Hörgerät tragen will oder eine Gehörlosigkeit vorliegt.
    • Der Bewohner leidet an einer Sehbehinderung, etwa ausgelöst von einem fortgeschrittenen Glaukom.
    • Die Sensibilität ist gestört, etwa als Folge einer Multiplen Sklerose oder eines operativen Eingriffs.
  • soziale Deprivation, also der Mangel an zwischenmenschlichen Kontakten
    • Der Bewohner wird von der Gemeinschaft gemieden, weil seine Körperhygiene unzureichend ist oder weil er aggressiv ist.
    • Es gibt keine familiären Kontakte, Freunde sind verstorben usw.
    • Der Bewohner isoliert sich von der Gemeinschaft innerhalb der Einrichtung, etwa weil er einen Migrationshintergrund hat und die Sprache nicht versteht.
  • kognitive Deprivation, also ein Mangel an Anregung
    • Der Bewohner langweilt sich, etwa weil er aufgrund einer rheumatischen Erkrankung der Hände seinen Hobbys nicht mehr nachgehen kann.
    • Der Tagesablauf ist monoton und bietet keine Abwechslung.
    • Das Wohnumfeld ist zu einheitlich gestaltet. Alle Zimmer und alle Flure der Einrichtung sehen immer gleich aus.

Durchführung:

Gestaltung der Umgebung

  • Wir reichern das Zimmer des Bewohners mit farblichen Elementen an. Dazu zählen etwa farbenfrohe Bettwäsche, bunte Gardinen und Vorhänge, frische Blumen usw.
  • Soweit dieses noch möglich ist, passen wir die Raumgestaltung des Wohnbereiches an. Lange Flure werden durch aufgestellte Sitzgelegenheiten optisch aufgelockert. Wir sorgen zudem für Orientierungshilfen und vermeiden ein einheitlich-monotones Mobiliar.
  • Wenn der Bewohner viel Zeit in der Rückenlage verbringt, sollte die Zimmerdecke in die Raumgestaltung einbezogen werden. Dort könnten etwa Kunstdrucke mit ansprechenden Motiven aufgehängt werden. Soweit akzeptiert kann alternativ ein Mobile genutzt werden.
  • Im Sichtbereich des Bewohners sollten Fotos aufgestellt werden. Diese können etwa dem privaten Fotoalbum entnommen werden oder von Angehörigen mitgebracht werden. Möglich sind auch vertraute oder lieb gewonnene Gegenstände, etwa die Bastelarbeit eines Enkels.
  • Das Bett des Bewohners wird so aufgestellt, dass dieser die Tür zum Flur im Sichtbereich hat. Falls möglich sollte er ebenfalls ein freies Blickfeld zum Fenster haben.
  • Unangenehme Gerüche werden konsequent beseitigt, insbesondere Urin- und Stuhlgerüche.
  • Die Temperatur sollte nicht zwangsweise konstant gehalten werden, etwa durch den Einsatz einer Klimaanlage. Sofern keine medizinischen oder pflegerischen Gründe dagegen sprechen, sollte etwa im Sommer die Wärme auch in das Bewohnerzimmer gelassen werden. Am Morgen kann es tendenziell etwas kühler sein als am Nachmittag.
  • Der Einsatz einer Superweichmatratze wird kritisch hinterfragt, da diese dem Bewohner die Körperwahrnehmung deutlich erschwert. Wir nutzen dieses Hilfsmittel lediglich bei einer akuten Dekubitusgefahr, die auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.
  • Wir stellen den Fernseher oder das Radio an, soweit es der Bewohner wünscht. Die Dauer der Mediennutzung richtet sich nach dem Aufnahmevermögen des Bewohners. Sobald dieser "berieselt" wird, wird das Gerät wieder abgeschaltet. Achtung: Eine Reizüberflutung insbesondere durch Fernseher kann eine Deprivation verschärfen.

Pflege von Bewohnern mit Hörstörungen und Sehstörungen

  • Die im Standard "Pflege und Betreuung von schwerhörigen Senioren" beschriebenen Maßnahmen werden ausgeführt.
  • Die im Standard "Pflege von blinden und stark sehbehinderten Senioren" beschriebenen Maßnahmen werden umgesetzt.

pflegerische Maßnahmen

  • Das Krankheitsbild eines Bewohners mit Deprivation kann dem einer Demenz ähnlich sein. Durch eine sorgfältige Beobachtung versuchen wir beide Krankheiten sicher voneinander zu unterscheiden. (Hinweis: Eine Deprivation kann in einen akuten Verwirrtheitszustand übergehen.)
  • Wir setzen konsequent auf das System der Bezugspflege. Nur so kann zwischen dem Bewohner und der Pflegekraft eine enge persönliche Beziehung entstehen.
  • Wir setzen konsequent auf aktivierende Pflege. Der Bewohner muss so viele Probleme und Aufgaben wie möglich selbst lösen. Nehmen wir ihm diese Tätigkeiten ab, verliert er wichtige Fähigkeiten.
  • Wir sorgen dafür, dass der Bewohner die vorhandenen Hilfsmittel nutzt, insbesondere Seh-, Hör- und Gehhilfen. Wir reichen dem Bewohner die Brille und seine Hörgeräte an. Wir sorgen dafür, dass die Batterien in den beiden Hörgeräten nicht entladen sind.
  • Auch ein völlig immobiler Bewohner sollte am Tag angekleidet werden, damit dieser durch die Kleidung einen Bezug zum Tagesablauf herleiten kann.
  • Wir nutzen das Snoezelen, um dem Bewohner zusätzliche Sinneseindrücke zu vermitteln.
  • Wir nutzen die basale Stimulation, um die Wahrnehmungs- und die Kommunikationsfähigkeiten des Bewohners zu fördern, z.B. mit kleinen Fühlsäckchen, die mit verschiedenen Materialien wie etwa Erbsen oder Reis befüllt sind. Es können je nach Situation belebende oder beruhigende Waschungen mit verschiedenen Materialien (Düfte, weiche Waschlappen, härtere Handtücher, Duftöle usw.) durchgeführt werden. Diese Dinge können mit einem geringen Aufwand in die Körperpflege eingebaut werden.
  • Wir sorgen dafür, dass jeder Bewohner auch dann Aufmerksamkeit erhält, wenn er in einem guten Allgemeinzustand ist. Wir vermeiden damit, dass dieser erst krank werden muss, um beachtet zu werden.

Betreuungsmaßnahmen

  • Wir massieren den Bewohner mit verschiedenen Materialien, etwa einem Stoffhandtuch, weichen Bürsten, den Händen oder warmen und kalten Waschlappen.
  • Wir nutzen die 10-Minuten-Aktivierung, um Fähigkeiten und Erinnerungen zu erhalten.
  • Wir sorgen für kulturelle Abwechslung in unserer Einrichtung, etwa durch Besuche eines lokalen Chores, Buchlesungen usw.
  • Wir halten eine Bibliothek bereit, diese enthält auch Hörbücher.
  • Wir halten Gesellschaftsspiele bereit, die ggf. auch am Bett gespielt werden können.
  • Eine zweiseitige Kommunikation bleibt erhalten. Wir sprechen mit dem Bewohner und nicht über ihn. Zudem muss die Sprache angemessen bleiben. Statt "Wir ziehen uns jetzt an" sagt die Pflegekraft "Ich helfe Ihnen jetzt beim Ankleiden".
  • Es können Tiere als Therapie eingesetzt werden.

Nachbereitung:

allgemeine Nachbereitung

  • Wir bieten unseren Pflegekräften regelmäßig Supervision an, um die mentalen Belastungen im Umgang mit betroffenen Bewohnern zu verarbeiten.
  • Etwaig aufgetretene Probleme werden im Qualitätszirkel thematisiert.

Prognose

  • Wird die Deprivation nicht konsequent behandelt, können Hospitalismusschäden entstehen. Dazu zählen schwere Persönlichkeitsstörungen und auch körperliche Deformationen, die durch bizarre Verrenkungen und dauerhafte Schaukelbewegungen ausgelöst werden.
  • In mehreren Fällen sind Bewohner sogar an den Folgen der Deprivation verstorben.
  • Der Reizaufbau gestaltet sich oftmals als schwierig. Der Bewohner hat sich an die Deprivation gewöhnt und wird durch ungewohnte Reize schnell überfordert.
  • In der Regel sind einmal eingetretene soziale und psychische Schäden unumkehrbar.

Dokumente:

  • Pflegeplanung
  • Berichtsblatt

Verantwortlichkeit / Qualifikation:

  • alle Mitarbeiter