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Standard "Pflege von Senioren mit einem
posttraumatischen Belastungssyndrom"
Bombenangriffe,
getötete Ehepartner, Verschleppung, Vergewaltigung und
Vertreibung. 60 Jahre lang hat die Kriegsgeneration ihre
schrecklichen Erinnerungen verdrängen können. Jetzt lassen
demenzielle Erkrankungen diese Schutzwände bröckeln.
Standard "Pflege von Senioren mit einem posttraumatischen
Belastungssyndrom"
Definition:
Belastungsreaktionen sind psychische Reaktionen auf krisenartige
Lebenssituationen oder Lebensveränderungen. Sie können auch bei
psychisch bislang unauffälligen Menschen auftreten.
Bei einer
akuten Belastungssituation reagiert der Betroffene zeitnah auf das
Ereignis, etwa mit Angst, Panikzuständen oder Rückzug. Die
Symptomatik klingt aber nach einigen Tagen wieder ab.
Bei einer
posttraumatischen Belastungsreaktion ist der zeitliche Abstand
zwischen Ereignis und Reaktion mit oftmals mehreren Monaten bis hin
zu Jahrzehnten deutlich größer. Die Beeinträchtigungen können
phasenweise auftreten mit schwankender Intensität. Das
zugrundeliegende Ereignis ist i.d.R. eine lebensbedrohliche
Situation, wie etwa Folter, Entführung, Mord, Vergewaltigung oder
Kriegsgeschehnisse.
Bei Senioren
kann es auch viele Jahrzehnte später zu einer Reaktivierung des
Traumas kommen. Vor allem dementielle Erkrankungen schwächen die
bislang erfolgreich eingesetzten Verdrängungsmechanismen des
Bewohners.
In sog.
"Flashbacks" brechen dann die Erinnerungen wieder auf. Der Bewohner
hat das Gefühl, dass sich das Trauma in diesem Augenblick wiederholt
und "real" ist. Diese Flashbacks können etwa durch visuelle
Eindrücke, Geräusche, Gerüche oder taktile Eindrücke ausgelöst
werden.
Grundsätze:
Das Thema
"posttraumatische Belastungsstörung" wird in unserer Einrichtung
nicht tabuisiert. Sofern es für die seelische Gesundheit unserer
Bewohner zuträglich ist, arbeiten wir auch sehr belastende Themen
wie sexuelle Gewalt oder Kriegshandlungen auf.
Gleichwohl
dürfen posttraumatische Belastungsstörungen nicht als allgemeines
Erklärungsmodell für alle Arten von psychischen Störungen herhalten.
Viele Menschen der Kriegsgeneration haben die NS-Zeit ohne seelische
Verletzungen überstanden und auch später keine entsprechenden
Traumata durchlebt. Etwaige Verhaltensauffälligkeiten haben dann
andere Ursachen.
Die Pflege und
Betreuung von betroffenen Senioren ist insbesondere für die
Bezugspflegekraft eine fordernde und schwierige Tätigkeit. Wir
berücksichtigen bei allen Maßnahmen stets auch die Belastungsgrenzen
unserer Mitarbeiter.
Ziele:
Der Bewohner
spürt, dass wir seine Probleme ernst nehmen.
Die Probleme
des Bewohners werden für uns sichtbar und begreifbar.
Wir finden die
Auslöser, die die Flashbacks beim Bewohner auslösen und vermeiden
diese.
Wir
ermöglichen es dem Bewohner, sich aktiv mit seinen Problemen
auseinander zu setzen.
Wir schützen
unsere Pflegekräfte vor übermäßigen psychischen Belastungen.
Vorbereitung:
achten auf Symptome
Posttraumatische
Belastungsstörungen deuten sich vielfach an, noch bevor es zu
schwerwiegenden Verhaltensstörungen kommt. Es gibt häufig auch
biografische Bezüge, die eine Traumatisierung möglich erscheinen lassen.
Es ist wichtig, solche Störungen frühzeitig zu entdecken und ggf. auch
mit Hilfe eines Therapeuten aufzuarbeiten. Wenn der Betroffene später
eine Demenz entwickelt, werden die Informationssammlung und etwaige
Therapiemaßnahmen deutlich erschwert.
Der Bewohner
hat nächtliche Albträume. Er schläft unruhig, spricht ggf. im
Schlaf. Ggf. kommt es zum Einnässen, obwohl keine auslösenden
körperlichen Beeinträchtigungen vorliegen. Es kommt zur
Kotschmiererei.
Der Bewohner
vermeidet bestimmte Situationen, etwa Dunkelheit.
Bewohnerinnen
kleiden sich bewusst unauffällig, vermeiden Schmuck, Make-up und
weibliche Frisuren.
Der Bewohner
ist anderen Menschen gegenüber misstrauisch und vorsichtig.
Der Bewohner
zeigt eine geringe Rücksichtnahme auf sich selbst. Sein Verhalten
ist angepasst. Er versucht zu "funktionieren".
Bewohnerinnen
sind sexuell überaktiv und zeigen Verhalten, das von anderen
Menschen als "schamlos" empfunden wird.
Es kommt zum
sozialen oder zum emotionalen Rückzug. Der Bewohner neigt zu
depressiven Stimmungen.
Der Bewohner
vermeidet Kontakt mit Menschen einer bestimmten Sprachgruppe /
ethnischen Herkunft oder mit Menschen in Uniform. Der Bewohner
entwickelt Antipathien gegen bestimmte Pflegekräfte, Mitbewohner
oder andere Personen, für die es keine nachvollziehbaren Gründe
gibt. Es kommt zu unberechtigten Schuldzuweisungen oder verbalen
Angriffen.
Der Bewohner
zeigt Suchtverhalten.
Es gibt
Informationen über zurückliegende Suizidversuche oder psychiatrische
Behandlungen.
Bei der
Körperpflege bemerkt die Pflegekraft Narben, die auf Folter oder auf
andere Gewaltanwendung hindeuten.
Im Rahmen der
Biografiearbeit gibt es zeitliche Lücken, weil sich der Bewohner zu
bestimmten Lebensabschnitten nicht äußern möchte. Dieses Indiz ist
umso relevanter, wenn der Bewohner ansonsten sehr auskunftsfreudig
ist.
Der Bewohner
war ein politischer Gefangener im NS-Regime oder in der sowjetisch
besetzten Zone bzw. in der späteren DDR.
Die Biografie
lässt auf Beziehungsstörungen schließen. Der Bewohner hatte
zahlreiche Beziehungen mit zumeist kurzer Dauer.
Die Bewohnerin
hat ein Kind, das zwischen Herbst 1945 und Sommer 1946 geboren
wurde, das also mit einiger Wahrscheinlichkeit aus einer
Vergewaltigung hervorging. Häufig ist das Verhältnis zu diesen
Kindern schlechter als zu Geschwistern, die vorher oder danach
geboren wurden.
Der Bewohner
zeigt bei bestimmten Pflegemaßnahmen Angstreaktionen, also
insbesondere erhöhten Puls, beschleunigte Atmung, gesteigerte
Schweißproduktion oder Versteifungen der Extremitäten. Sie lassen
die Maßnahme passiv über sich ergehen. Oder aber sie zeigen
aggressives Verhalten und wehren sich nach Leibeskräften, schreien,
treten, beißen und kratzen.
Informationssammlung
Wir führen
eine sorgfältige Biografiearbeit durch. Uns ist bewusst, dass viele
Bewohner bestimmte Ereignisse aus Scham nicht von sich aus
ansprechen werden.
Wir suchen den
Dialog mit den Angehörigen. Falls wir das Gefühl haben, dass auch
diese bestimmte Geschehnisse verschweigen, machen wir sie auf die
Dringlichkeit aufmerksam. Wir können den Bewohner nur dann
angemessen pflegen, wenn wir über alle relevanten Informationen
verfügen.
Durchführung:
Zuweisung der Bezugspflegekraft
Wir achten bei
der Zuweisung der Bezugspflegekraft darauf, dass diese eine
angemessene Betreuung sicherstellen kann. Die Kriterien ergeben sich
aus der auslösenden Traumatisierung. Etwa: Gleichgeschlechtliche
Pflegekraft, Vermeidung von Pflegekräften mit einem bestimmten
Akzent (etwa russisch oder englisch) oder einer bestimmten Hautfarbe
(etwa dunkelhäutig).
Zudem sollte
die Bezugspflegekraft Erfahrungen im Umgang mit traumatisierten
Senioren haben. Dieses ist i.d.R. erst nach mehreren Berufsjahren
der Fall.
Falls
notwendig erhalten diese Bezugspflegekräfte eine entsprechende
Fortbildung im Rahmen externer oder interner Seminare.
Wenn die
Bezugspflegekraft krank ist oder Urlaub hat, sollte der Kreis der
Vertretungskräfte möglichst klein sein.
Gespräche
Wir stehen dem
Bewohner jederzeit zur Verfügung, wenn dieser über seine Situation
sprechen möchte.
Wir achten auf
eine vertrauensvolle Umgebung, insbesondere führen wir die Gespräche
ohne die Anwesenheit anderer Bewohner.
Die
Pflegekraft vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit und der
Akzeptanz.
Wir vermeiden
Suggestivfragen, etwa wenn die Pflegekraft bereits einen konkreten
Verdacht hat und diesen bestätigen will.
Wir vermeiden
es, allzu neugierig nachzufragen. Wenn der Bewohner offenkundig über
ein Thema nicht sprechen will, drängen wir ihm ein Gespräch darüber
nicht auf. Im Zweifel überlassen wir es den Fachärzten und
Physiotherapeuten zu entscheiden, wie weit "nachgebohrt" werden
soll.
Wir
unterlassen jede moralische Bewertung. Etwa dass "die Deutschen" als
Kriegsauslöser für die Vertreibung "selber schuld" sein. Die
Pflegekraft achtet aber auch auf Distanz, z.B. wenn ein Bewohner den
Wunsch nach Rache an einem Peiniger äußert oder allgemein "die
Russen" oder "die Franzosen" ablehnt.
Wir bewahren
diese Neutralität auch, wenn der Betroffene offenbart, dass er
selbst Täter war, also etwa feindliche Soldaten tötete oder
Gefangene misshandelte. Derartige Informationen werden strikt
vertraulich behandelt und weder Mitarbeitern noch Angehörigen
mitgeteilt. Sie werden auch nicht schriftlich fixiert.
Berührungen
Körperlicher
Kontakt kann z.B. für ein Missbrauchsopfer schwer zu ertragen sein.
Da aber Berührungen insbesondere bei pflegebedürftigen Senioren
nicht vermeidbar sind, achten wir darauf, dass diese nicht zu
belastend für den Bewohner sind.
Die
Berührungen werden vorher angekündigt, damit sich der Bewohner auf
sie einstellen kann. Dem Bewohner wird immer ein kurzer Augenblick
gelassen, damit er widersprechen kann, wenn er die Berührung nicht
wünscht. Das kann etwa ein Zurückzucken, ein Laut oder ein mimischer
Ausdruck sein. Auch bei bewusstlosen Senioren erfolgt eine solche
Ankündigung.
Wir
berücksichtigen, dass es verschiedene Intensitäten bei Berührungen
gibt. Leichte Berührungen wie etwa der Hand oder der Schulter sind
zumeist unproblematisch. Bei einem entsprechenden
Vertrauensverhältnis toleriert der Bewohner i.d.R. auch Berührungen
am Kopf, im Gesicht, am Bauch oder an den Beinen. Eine Berührung im
Intimbereich ist insbesondere bei Opfern sexueller Gewalt häufig
kaum möglich.
Kritisch sind
auch die Verabreichung von Vaginalzäpfchen, die Anwendung rektaler
Abführmittel, rektales Ausräumen, das An- und Ausziehen der
Bewohnerin sowie (ganz wichtig!) Fixierungsmaßnahmen.
Wenn nötig
wird eine Pflegemaßnahme unterbrochen und zu einem späteren
Zeitpunkt wieder aufgenommen.
Weiteres
Wir achten
strikt darauf, die Schamgrenzen zu beachten. Senioren werden z.B.
nicht halbnackt auf den Toilettenstuhl gesetzt, wenn der Mitbewohner
dieses beobachten kann.
Die Anzahl der
anwesenden Pflegekräfte bei sensiblen Maßnahmen wird auf ein Minimum
reduziert. Dieses insbesondere bei der Intimpflege, beim
Toilettengang oder bei der Katheterisierung. Vor allem werden diese
Senioren nicht durch Pflegevisiten belastet, in deren Rahmen eine
Pflegekraft eine Maßnahme durchführt und eine oder mehrere andere
Pflegekräfte das Geschehen beobachten. Dieses gilt auch für die
Ausbildung von Pflegeschülern.
Wir prüfen, ob
der Bewohner kurzfristig Psychopharmaka (wie etwa Antidepressiva)
oder Schlafmittel (wie etwa Benzodiazepine) erhalten sollte. Der
Einsatz muss gut begründet sein, da eine dauerhafte Applikation
vermieden werden sollte und die spätere Entwöhnung ggf. neue
Probleme schaffen könnte.
Wir ermuntern
den Bewohner, sich am sozialen Leben innerhalb der Einrichtung zu
beteiligen und insbesondere die Freizeitangebote wahrzunehmen.
Wir prüfen,
welche äußeren Einflüsse beim Bewohner die Symptomatik auslösen. Wir
sammeln diese Informationen und thematisieren dieses in
Fallbesprechungen. Ggf. können diese Auslöser zukünftig vermieden
werden. Die möglichen Auslöser sind vielfältig. Häufig ist es etwa
der Verlust der Selbstpflegefähigkeit, insbesondere wenn erstmals
die Intimpflege von einer Pflegekraft durchgeführt werden muss. In
Frage kommen zudem Fernsehnachrichten über Terroranschläge oder
Spielfilme mit einschlägigem thematischem Inhalt. Es können aber
auch völlig abwegige Auslöser sein, wie ein bestimmtes Aftershave,
dass sowohl der Peiniger also auch ein Zivildienstleistender
verwenden. Ein weiteres Beispiel ist das Sylvesterfeuerwerk, das
Betroffene an Feuergefechte oder an Bombenangriffe u.Ä. erinnert.
Bei
Angehörigen verfolgter Minderheiten wie Juden, Roma, Sinti oder
Homosexuelle kann es Schwierigkeiten geben, diese zur Nutzung einer
Dusche zu bewegen. In den Vernichtungslagern wurden die Gaskammern
als Duschen getarnt. Wir bieten dann z.B. Teil- oder Vollbäder an.
Nachbereitung:
Wir nutzen
Supervision, um die Kräfte unserer Pflegekräfte zu schonen und einen
Burn-Out zu vermeiden.
Der
behandelnde Arzt wird über alle relevanten Veränderungen umgehend
informiert.
Dokumente:
Pflegebericht
Pflegeplanung
Verantwortlichkeit / Qualifikation:
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